Michaels Geschichte: Unser Museum ist überall

In Zeiten, in denen diskriminierende Sprache noch immer an der Tagesordnung ist, sind Ausstellungen, die gleichgeschlechtliches Begehren oder andere nicht-normative Lebenswege zeigen, entscheidend, um unsere eigene Geschichte neu zu schreiben. Ein Museum in Kolumbien ohne eigene Museumsräume bietet einen besonderen Mehrwert.

Michaels Story

Aus unserem Dossier "Queering Memory".

Auch wenn Kolumbien als eines der fortschrittlichsten Länder in Bezug auf LGBTQ+ Rechte und Gesetzgebung in der Region angesehen wird, wurden erst im Jahr 1981 „einvernehmliche homosexuelle Handlungen“ entkriminalisiert und 2016 bekamen gleichgeschlechtliche Paare das Recht zu heiraten. Gleichzeitig dazu, als andere Realität, leidet Kolumbien unter den Folgen eines internen bewaffneten Konflikts, der die kolumbianische Nation für mindestens drei Generationen definiert hat. Im Jahr 2015 hat das Nationale Zentrum für historisches Gedächtnis in Kolumbien, eine staatliche Organisation mit dem Ziel der Erschaffung eines Nationalmuseums der Erinnerung und eines Archivs für Menschenrechte, berichtet, dass 1.795 sich als LGBTQ+ verstehende Menschen Opfer des internen bewaffneten Konflikts waren.

In diesem kritischen Kontext entstand 2014 das Museo Q. Ein abnormales, queeres Museum, ohne Wände und Sammlungen, aber mit der Mission, die Erinnerungen und Identitäten von LGBTQ+ Personen in den kolumbianischen kulturellen öffentlichen Raum zu platzieren.

Die Leute fragen aber gewöhnlich: Warum ein Museum? Welche Art von Aktivismus leistet das Museum? Haben kurzlebige Aktionen wie eine Ausstellung oder ein öffentliches Gespräch eine greifbare Wirkung auf die Menschen? Wie kann ein Museum ohne einen Raum existieren?

Die Ausstellungsgeschichte von Museo Q begann im Oktober 2016 mit einer Ausstellung unter dem Titel Lo Que Se Ve No Se Pregunta, frei übersetzt als „Was gesehen werden kann, sollte nicht gefragt werden“ - eine berühmte Phrase des mexikanischen Sängers und lateinamerikanischen Stars Juan Gabriel. Diese Ausstellung, deren Planung ein Jahr davor begann, hat ihre Türen nur zwei Monate nach erbitterten Protesten gegen ein Anti-Bullying-Programm des Bildungsministeriums geöffnet.

Diese Ausstellung, mit unterschiedlichen partizipatorischen Elementen, wurde zu einem Mechanismus zum Ausdrücken von Gefühlen, Gedanken und Erwartungen. Neben Gravuren, Fotografien, Kleidung, Zeichnungen, Videos und Ephemera haben Männer und Frauen sich ausgetauscht und über Momente der Diskriminierung, Angst, Gewalt, Widerstand und Freude gesprochen.

Eines der Elemente, das große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, war eine Stadtkarte, auf der Ausstellungsbesucher Orte aufgezeigt haben, an denen sie sich mit Liebhaber*innen getroffen haben oder Cruising praktiziert haben, sie haben ebenfalls nach der Sexualität von durch Krieg vertriebenen Menschen gefragt und haben Flugzeuge und Zeichen aus anderen kolumbianischen Städten gezeichnet um auszudrücken, dass diese Erinnerungen wichtig sind. Neben öffentlichen Parks und Privatheimen haben es andere Orte wie Gefängnisse, Büros und Universitäten auf die Liste geschafft und ein queeres Territorium bis zu unbekannten Grenzen hin ausgedehnt, die vorher nicht anerkannt waren.

Michael Andrés Forero Parra

Michael Andrés Forero Parra

Michael Andrés Forero Parra hat Architektur und als Nebenfach Bildende Künste an der Los Andes Universität (Kolumbien) studiert und einen Master of Arts mit Auszeichnung erworben, in „Art Museum and Gallery Studies” an der Universität von Leicester (Vereinigtes Königreich). Michael hat die architektonische Entwicklung des neuen Nationalmuseums der Erinnerung in Kolumbien koordiniert, ein Projekt der symbolischen Wiedergutmachung für die Opfer des internen bewaffneten Konflikts. Außerdem hat er das Museo Q mitbegründet, eine gemeinnützige museologische Initiative, die queere Kulturen in Museen und Galerien bringt. Michael hat in Kolumbien, Mexiko, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich veröffentlicht, und hat Stipendien und Reisestipendien erhalten von der Getty Foundation, der Heinrich Böll Stiftung, des Tate Modern und dem Smithsonian Institute. Er wurde als Gastreferent eingeladen nach Bogota, Helsinki, San Juan und Berlin. Michael wird das Doktoratsstudium Kuratorisches Forschungskollektiv an der TU/e in den Niederlanden besuchen.

Zwischen den zwei erwähnten Projekten hat Museo Q hat im Jahr 2017 seine zweite Ausstellung mit dem Titel Lluvia de Sobres eröffnet, ein Ausdruck, der mit der Vorstellung spielt, dass bei Hochzeiten Geld in Umschlägen eingereicht wird, eine weitverbreitete Handlung in Kolumbien anstelle von Hochzeitsgeschenken.

Museo Q hat sich dazu entschlossen, die Veränderungen der Ehe als Institution durch die Verwendung zweier interpretativer Elemente zu illustrieren: eine Zeitleiste und eine Kartografie. Museo Q hat eine Art ethnographische Studie der Ehe durchgeführt mit Besuchen von unterschiedlichen Handelsgeschäften im Kennedy Stadtbezirk, die sich auf Hochzeiten spezialisiert haben, wie beispielsweise Blumenläden, Kleiderverleihe, Friseursalons, Textiliengeschäfte und besondere Veranstaltungsorte. 17 Frauen und Männer, die in diesen Betrieben arbeiten, wurden interviewt. In Gesprächen wurden sie nach ihrer persönlichen Betrachtungsweise von Ehe, Familie und gleichgeschlechtlichen Paaren gefragt, womit über 40 Aussagen gesammelt und auf einer Karte im Ausstellungsraum ausgestellt wurden.

Lebenszeugnisse und Erfahrungen der Personen, die in Kennedy[1] leben und arbeiten, haben aktuelle Vorstellungen und Stereotype über die Ehe und gleichgeschlechtliche Paare gezeigt, Perspektiven, die mit den Kunstwerken und der gesetzlichen Zeitleiste harmonisierten.

Auch wenn Ausstellungen das Herzstück von Museen sind, sind andere Aktivitäten genauso wichtig für Museo Q. So wurde beispielsweise das Museum 2018 eingeladen, ein Projekt für ein literarisches Picknick im Botanischen Garten in Bogota zu entwickeln, als Teil der Pride-Feierlichkeiten. Museo Q hat ein Booklet vorbereitet, in dem Besucher über die sexuelle Fortpflanzung von Pflanzen und Blumen lesen konnten als Versuch, eine Botschaft über natürliche Vielfalt zu vermitteln und auf diese Weise wurde die Bedeutung eines sehr traditionellen Raums  neu definiert und ihm wurde eine weitere Bedeutung verliehen.

Ähnlich hat sich das Museo Q an jedem Pride-March im Sommer in Bogota seit 2015 beteiligt. Es ist das einzige Museum, das bei der Pride mitmacht.

Im April hat das National Museum diese neue Galerie eröffnet und dabei das erste von Museo Q 2015 bei der Pride verwendete T-Shirt neben anderen herausragenden Objekten zur Schau gestellt, die die Geschichten und Erinnerungen von queeren Identitäten zum ersten Mal zeigen. Dass unsere Stimmen gehört werden, hat sich definitiv als notwendig und erfolgreich herausgestellt.

In Zeiten, in denen diskriminatorische und abfällige Sprache immer noch eine alltägliche Routine in vielen Ländern ist, sind Ausstellungen, die gleichgeschlechtliches Begehren oder andere nonkonforme Lebenswege darstellen essentiell, um unsere eigene Geschichte umzuschreiben.

Auch wenn Museo Q kein permanentes Gebäude besitzt, hat die Nichtexistenz eines architektonischen Raums es erlaubt, dass das Projekt in andere Gegenden einzieht, in unterschiedlichen Auslegungen und vor unterschiedlichem Publikum. Museo Q fließt, läuft und bewohnt die Stadt und verändert periodisch seinen Ort und seine Form. Museo Q kann eine Ausstellung sein, eine Gruppe von Freund*innen bei der Pride, ein kuratorischer Workshop oder ein Vortrag bei einer Konferenz. Sogar die Webseite dient als ein Ort der ständigen Kommunikation mit denjenigen, die das Museum „besuchen” möchten. Die flüchtige Natur des Museo Q definiert seine Identität. Museo Q kann das Beispiel eines transitorischen Gefüges sein, eine sich wandelnde und sich entwickelnde Architektur, ein von uns allen geteilter Weg.

Aus unserem Dossier "Queering Memory".


[1] Eine sehr stigmatisierte Nachbarschaft der Unterschicht im Süden von Bogota, heißt so seit dem Besuch des US-Präsidenten John F. Kennedy in 1961.